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Identität und psychische Gesundheit

Eine systemische Herausforderung der besonderen Art – 

 

Das Thema ›Identität‹ hat in den letzten Jahren an Forschungsinteresse gewonnen. Auch in der Trauma-Forschung wird der Zusammenhang zwischen Entwicklungstraumata und den jeweiligen destabilisierenden Auswirkungen auf die persönliche Entwicklung und die Herausbildung einer stabilen Identität untersucht (Siehe Link unten).

 

https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0140197119301897 

 

Versuchen wir hier zunächst eine allgemeine “Arbeitsdefinition“ von Identität, wie sie für die psychische Gesundheit im allgemeinen von Belang sein könnte. Schauen wir im Anschluss darauf, welche inneren und äußeren Faktoren dazu beitragen können, ein Konzept von persönlicher Identität zu stabilisieren oder es in der Ausbildung zu erschweren bzw. zu destabilisieren. In einem ersten und vorläufigen Fazit stellen wir zum Abschluss die Hypothese auf, dass Identitätsprozesse unmittelbaren Einfluss auf die psychische Gesundheit eines Menschen haben können. 

 

Arbeitsdefinition: Die Identität eines Menschen zeigt sich dort, wo dieser Mensch aus seinem familiären, beruflichen und kulturellen Umfeld heraus Konzepte über sich und sein ›Selbst‹ erstellen konnte und weiterhin kann, die ihm helfen, mit sich und anderen Menschen in eine als wirksam-erlebte, sich kontinuierlich verändernde und ihn in seinem ›Selbst‹ unterstützende Kommunikation einzutreten

 

Identität hat also mit einem inneren “Bild“ von sich selbst zu tun, welches seine Halte- und Ankerpunkte in der Vergangenheit und Gegenwart der äußeren Welt finden und stabilisieren kann. Identitätsentwicklung ist somit nur dort möglich, wo innerhalb einer biografischen Entwicklung eines Menschen Prozesse ablaufen konnten, in denen sich dieser Mensch an den Konzepten anderer Menschen aus dem familiären oder sonstigen Umfeld wirksam orientieren konnte, um sein eigenes übereinstimmendes und abweichendes Selbst-Konzept zu entwickeln. Diese ›Orientierung‹ setzt allerdings voraus, dass auf der körperlichen Ebene keine schwer belastenden Störfaktoren auftreten, die durch ihr Einwirken die Lernprozesse solcher Orientierung blockieren oder sonstwie verhindern. 

 

Auch sei hier vorausgesetzt, dass es einerseits keine nachgewiesene Trennung von körperlichen und mental-psychischen Prozessen gibt, die es ermöglichen würde, den Körper u. seine gesunden oder erkrankten Anteile so ohne weiteres unabhängig von den Auswirkungen auf unser Bewusstsein zu betrachten. Andererseits zeigt der Umstand, dass es Menschen im Koma gibt, deren Körper zwar “funktioniert“, aber nicht mehr im erfolgreichen Austausch mit Gehirnprozessen steht, dass der Körper-Geist-Dualismus einen ”Restkern“ an Wahrheit behält: Wir können u. U. in einem völlig derangierten Körper noch brillant denken (siehe zb Stephen Hawkings) oder eben umgekehrt in einem relativ gesunden Körper kaum noch zu einem aktiv-kommuni-zierenden Bewusstsein fähig sein. 

 

Dieser Einschub war notwendig um klarzustellen, dass es durchaus funktionale und körperlich-gesund ausgebildete “Identitäten“ geben kann, deren Träger jedoch unter einer solchen körperlichen Identität leidet und an einer Depression erkrankt (–> Transgender-Problematik). Will sagen: auch unser Körper hat “für sich“ eine Identität, die jedoch nicht identisch mit dem dazugehörigen kognitiven Konzept dazu ist. Um das an einem anderen Beispiel “körperlicher Kulturalität“ zu verdeutlichen: Ein durchtrainiert-muskulöser Mann mit muslimisch-anmutendem Vollbart kann durchaus als Priester im Vatikan arbeiten. Da gibt es zunächst keinen Widerspruch, auch wenn zusätzliche Tattoos auf seinen Armen vielleicht die ersten Probleme mit den Identitätsvorstellungen des religiösen Umfeldes nachsichziehen würden. 

 

Das Beispiel zeigt aber auch, dass “äußere“ Identitäten und “innere“ Identitäten in einem komplexen Wechselverhältnis stehen können, welches u. U. dazu beiträgt, die jeweilige Gesamt-Identität zu (de)stabilisieren. Denn es gibt nicht die eine Identität. Es gibt wohl in jedem Menschen verschiedene Teile seines Körpers und seiner kognitiven Konzepte, die miteinander kommunizieren und sich in einem Gesamtkonzept einer Identität artikulieren (können). Identität ist insofern ein durch und durch systemisches Thema. Weil es eben auf die “Durchdringung“ des Selbst eines Menschen durch andere – fremde oder auch vertraute mentale und körperliche Konzepte ankommt –und die innere und äußere Verarbeitung der individuellen Durchdringung. Beispiel: Ein Mensch kann in einem Elternhaus mit anti-religiöser und gleichzeitig politisch-linker Gesinnung aufwachsen. Irgendwann erscheint dieser Mensch mit den politisierten Eltern in einem konservativen Umfeld und setzt sich für religiös motivierte Gesetze gegen die Abtreibung ein. Das mag ein klischeehaftes Beispiel sein. Aber wirklichkeitsfern ist es meiner Beobachtung nach nicht. Denn Menschen nehmen Werte an oder stoßen sich von ihnen ab, um anhand dieser Werte ihr eigenes Selbst zu identifizieren. 

 

Identität hängt somit als systemisches Konstrukt stark mit Werten und ihren systemisch gebundenen Implikationen für Individuen zusammen. Wenn wir nun zeigen wollen, dass unsere psychische Gesundheit ein unmittelbares Identitätsthema ist, lohnt es sich, zunächst einen Blick auf den Einfluss von kulturellen Wertesystemen zu werfen. Meines Erachtens ist deren Einfluss auf die psychosoziale Stabilität von Menschen sehr groß oder gar: hyper-dominant. Jegliche Erziehung, jegliche Bildung, alle religiösen Systeme, Ernährung und Essen, aber auch die meisten materiellen Dinge, die zu direktem Wohlstand oder (un)sichtbarer Armut führen, sind letztlich auf starke oder schwache Wertesysteme zurückzuführen. Ich sage “stark oder schwach“, weil auch ein nach außen hin schwaches Wertesystem zu starken Konsequenzen der Identitäts-entwicklung in einem Individuum führen kann. Was heißt also “stark“ oder “schwach“? Wie im neurologischen Bereich des Traumas ist an dieser Stelle eine solche Bewertung im besten Sinne des Wortes relativ. 

 

Wie aber kann ein Wertesystem und eine sich überwiegend darauf herstellende Identität eines Menschen zur psychischen Belastung werden? 

 

Werte sind zutiefst mit der Möglichkeit einer emotionalen Selbstregulation eines Menschen verbunden. Wir sagen: ein Mensch ist “haltlos“ und greift vielleicht deswegen zum Alkohol. Woran aber sollte er sich “festhalten“? Seinen inneren Halt kann er nur aus der eigenen emotionalen Stabilität ableiten. Diese aber ist abhängig von lebendigen und flexiblen Bezügen durch Beziehungen in und hin zu Wertesystemen der Außenwelt und deren veränderlicher Kommunikation. Diese Bezüge und Beziehungen sind wiederum abhängige Variablen von Werten und unseren Identifikationen mit diesen Werten. Werden solche Identifikationen instabil, werden auch die bezogenen Kommunikationen unverbindlich und wackelig. Der “Halt“ in der Bindung und einer bezogenen wirksamen Kommunikation geht verloren. 

 

Das klingt abstrakt und ist doch höchst konkret, wenn wir es uns an Beispielen verdeutlichen. Unlängst saß eine junge Frau in meiner Praxis, die davon berichtete, dass ihr Mann seit einiger Zeit für eine politische Partei arbeite, deren Ansichten und Werte sie in keiner Weise teilen würde. Sie denke an Trennung … und es ist dies ein relativ klares Beispiel, wie schnell und wie durchdringend unsere bezogenen Emotionen für andere Menschen oder Beziehungspartner abhängig sind von deren Wertesystemen und Bewertungen der alltäglichen Dinge des Lebens. In einem anderen Beispiel berichtet ein Paar in einer Paartherapie davon, wieviel ihm “äußere Dinge“ wie eine neue Couch bedeuten würde, während ihr das völlig gleichgültig sei – nur scheinbar ein banales Problem: soll doch jeder nach seinem Gusto, denkt man sofort. Nur dass hinter diesen “banalen und äußerlichen“ Dingen eben tiefere Wertesysteme verankert sind, die bei näherem Hinschauen alles andere als trivial sind. Da geht es sofort “ums Ganze“ – denn materielle Werte sind mitnichten nur äußere Werte. Sie weisen darauf hin, wie und auf welche Weise unsere Emotionen Halt in den Dingen finden, in unserem freudvollen Umgang mit diesen Dingen. Sie weisen darauf hin, wie Menschen Macht durch materielle Gewohnheiten und Vorlieben ausüben und ihren Status oder ihre Identität dadurch bestimmen. Wenn mein Partner schnelle Autos liebt, ist das in der Regel ganz und gar kein äußerliches Detail. 

Psychische Destabilisierung aber erfolgt nicht nur dann, wenn Menschen keinen Halt in den Werten der Außenwelt finden. Sie erfolgt auch dadurch, dass in den Wertesystemen der Außenwelt zu wenig oder zu verwirrende Anhaltspunkte zu finden waren, um ein stabiles inneres Konzept der eigenen Identität daraus abzuleiten. Ein solches Konzept, das die Möglichkeit der Selbst-Identifizierung und des offenen Widerspruchs nicht integrieren kann, kann sich auch nicht “selbst-formulieren“. Dies kann aus verschiedensten Gründen der Fall sein: 

 

1. Zwischen den Werten und ihren emotionalen Botschaften entstanden und entstehen immer noch “kognitive Dissonanzen“. Die in einer Vorbildsbeziehung übertragenen Emotionen passten irgendwie nicht zu den vermittelten Werten, sie waren eben “dissonant“ oder gar in paradoxen Botschaften vermittelt. Beispiel: ein anti-autoritär auftretender 68-iger Familienvater brüllte immer mal wieder seine Kinder zusammen, wenn es ihm nicht gut ging. Gleichzeitig durften sie machen, was sie wollten, hatten alle Freiheiten. Aber die Kinder mussten eben jederzeit mit emotionalem Stress rechnen, der nicht so recht zur ansonsten angesagten Lässigkeit passen wollte. Ergebnis: Diese Kinder finden keinen emotionalen Halt in eigenen Wertebildern. Sie werden zb. anfällig für Suchterkrankungen, suchen Halt in vermeintlich widerspruchsfreien “Tröstern“.

 

2. Die Werte der familiären oder sonstigen Vorbilder wurden sozusagen zu stark inhaliert. Eine innere Abgrenzung und “entwickelnde Variation“ dieser Werte konnte aus Gründen der (eventuell untergründig) geforderten Anpassung nicht erfolgen. Solche Identitäten neigen zur Rigidität, zur Ängstlichkeit und zur fehlende inneren Entwicklungs-perspektive. 

 

3. Die Werte innerhalb eines familiären Systems waren extrem divergierend und polarisierend. Zwischen Zügellosigkeit und “Ordnungsmacht“ gab es keine fühlbaren Übergänge. Liebe und Abneigung, körperliche Nähe und abweisende Kälte waren dicht nebeneinander zu spüren und vorhanden. Gerade in religiös ausgerichteten Systemen finden wir oft solche Divergenzen und Polarisierungen. Jeder Wert lebt nur aufgrund seines ständig präsenten Gegenteils. Das führt bei empfindlichen Veranlagungen zu möglichen schizoiden Störungen, Bindungsstörungen oder bi-polaren Ausprägungen der Charaktere. 

 

4. Die Wertesysteme einer Familie oder eines Bezugssystems waren stark und in der Hauptsache implizit und non-verbal wirksam. Das führt dazu, dass möglicher Protest und eine sinnstiftende bzw. identitätsstiftende Variation und Abweichung von den Werten kaum möglich ist. Denn die Sprachlichkeit wird unbewusst vermieden, weil zu starke Konflikte befürchtet werden – Konflikte, die die Werte des Systems vor eine Zerreißprobe stellen würden. Menschen entwickeln hier eine stark vermeidende Perspektive, neigen m. E. zu Depressionen, Ängsten und möglicherweise auch zu autistischen Verhaltensweisen. 

 

All diese möglichen Gründe reichen aus, um die “Selbst-Findung“ eines Menschen mindestens zu beeinträchtigen oder sie ganz zu verhindern. 

 

Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber auch der sprachlich-geografische Raum der Kultur, in der sich ein Mensch entwickeln soll. Eher “kollektiv“ ausgerichtete Kulturen wie die asiatischen, aber auch die südamerikanischen und in Teilen die slawischen Kulturen führen zu anderen Entwicklungsprozessen im Menschen als Kulturen wie in den westlichen Industriestaaten, die auf eine starke Individualisierung des Menschen aufbauen. Auch diese Einflüsse spielen bei dem Thema psychischer Gesundheit eine dominante Rolle. Beispiel: Trifft eine südamerikanische Frau auf einen nord-amerikanischen Mann, können im Paargeschehen Prozesse virulent werden, die durch die unterschiedliche kulturelle Sozialisierung (“kollektiv versus individualistisch“) mitverursacht werden. 

 

Erstes Fazit:  All diese Beispiele der Zusammenhänge zwischen sozialen, familiär-.gesellschaftlichen und kulturellen Werten und der individuellen Entwicklung eines Menschen und seiner psychischen Gesundheit haben gezeigt, dass menschliche Identität einerseits von einer gewissen “Widerspruchsfreiheit“ (wenig Paradoxien) lebt, aber (paradoxer Weise…) auch darauf angewiesen ist, sich “im Widerspruch“ zu entwickeln und daraus Variationen der Identität einerseits und Stabilität der Identität andererseits abzuleiten. Nur dieses äußerst komplexe Mischverhältnis aus Bestätigung und Widerspruch, aus wörtlicher Übernahme und meta-sprachlicher Verweigerung kann so etwas wundervolles aber auch fragiles wie menschliche Identität hervorbringen. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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