Die Gegenwart der Politik und unserer Psyche – ein systemischer Ausflug in Zeiten von Corona
Das Thema der Politik dürfte in den Gesprächen aller psychotherapeutischen Praxen in diesem Land eine eher untergeordnete Rolle
spielen. Wir westliche Menschen sind es gewohnt, unser persönliches Glück, unsere Beziehungsprobleme, unsere Wünsche in Bezug auf unsere Biografie nicht allzu
eng mit den Geschehnissen und Diskursen des politischen Lebens zu verbinden. Das sagt allerdings nicht nur über die Geschichte der “westlichen Psyche“ viel aus, sondern auch über die
entpolitisierte Geschichte der Psychotherapie (weniger die der kulturell-politisch engagierten Psychoanalyse und der systemischen Therapie).
Dieser Zustand dürfte sich durch die Corona-bedingten Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens teilweise stark geändert haben.
Auf einmal geht mich die “Politik da draußen“ wirklich etwas an – jenseits von all den Kommentaren über Grüne, Linke oder AfD – Kommentare, die in der Regel mehr dem
Signalisieren politischer Allgemeinbildung oder einer zur Schau gestellten Anteilnahme in welcher Richtung auch immer dienen.
Dabei trifft eine Entpolitisierung der Psyche in der Regel nicht mal im Ansatz die “Wahrheit“ unseres Lebens. Auch durch Corona dürfen wir jetzt
erfahren: das politische System und seine Entscheidungen spielt eine existentielle Rolle für unser privates Leben. Die Bürger der ehemaligen DDR haben das längst nicht vergessen. Politik in
fatalen Macht-Konstellationen schränkt unser Lebensglück ein, auf letztlich unberechenbare und oft genug drastische Weise. Auch wenn Einschränkungen ideologischer Art etwas ganz anderes zu sein
scheinen als Maßnahmen gegen eine Pandemie, sehen wir an den erhitzten öffentlichen Diskursen, dass gerade letzteres wohl noch tiefer in die Psyche der Menschen eindringt, als die Einlassungen
öffentlicher Diktatoren-Propaganda. Schließlich geht es um Gesundheit und Freiheit! Und dies scheint ein sehr giftiges Gemisch für öffentliche Diskurse zu sein.
Was würde uns aber ein gewiefter Therapeut in seiner Praxis sagen, wo wir gerade wegen Depressionen aller Art aufgetaucht sind und einen Teil
unseres Zustandes den Maßnahmen gegen Corona zuschreiben? Würde er uns alsbald auf unsere Kindheitsprobleme mit den zu strengen Eltern verweisen? Nun, die Wahrscheinlichkeit, dass ein “westlich“
ausgebildeter Therapeut unseren Gemütszustand nicht auf die Politik, sondern auf unser Elternhaus und unsere Herkunft zurückführen würde, ist hoch. Letztlich auch unter systemischen oder
humanistischen Therapeuten.
Die entwicklungspsychologische Hierarchie aus Eltern, Kleinkind und daraus folgendem Lebensweg ist zu tief verankert und durch empirische
Erfahrungen der Soziologen und Psychologen belegt, als dass sie irgendjemand ernsthaft anzweifeln würde. In Wahrheit gibt es allerdings keine (mir bekannten) Studien darüber, ob die momentane
gesellschaftliche Lebenssituation eines Individuums nicht genauso stark auf sein Befinden und seine Probleme einwirkt, wie es die häusliche Kindheit und eine nachfolgende Biografie unzweifelhaft
zu tun scheint. Dennoch wird in den meisten Therapien vermutlich in einer Abstufung von mind. 80 / 20 zu Gunsten der persönlichen Vergangenheit oder mindestens der durch die Vergangenheit
bestimmten persönlichen Verhaltensausrichtung in der Gegenwart gearbeitet. Die Einflüsse der politischen Gegenwart sind nur Hintergrundmusik, die sich lästiger Weise immer wieder mal stark
in den Vordergrund drängt. Man könnte bezüglich Therapien auch sagen, sie arbeiten stark nach dem Motto “Es lebe die Vergangenheit…!“ – auch die kognitiv orientierten Verhaltenstherapien machen
da insofern keine Ausnahme, als die Verhaltenskorrektur sich ja auf ein Bild der Vergangenheit mit entsprechendem Fehlverhalten stützen muss. Hier wird zwar die familiäre oder
tiefen-psychologische Verankerung nicht in den Fokus gerückt, aber die Ausrichtung am “früher“ einer mehr oder weniger ursächlichen Vergangenheit bleibt.
Und es ist ja auch so. Ohne unsere frühen Erfahrungen wären wir nicht die Personen, die wir geworden sind. Das ist die eine Wahrheit.
Wahrheit ist aber auch: Eigentlich weiß niemand, in welche Richtungen die Kausalitäten des Lebens, die uns JETZT beeinflussen, wirklich fließen – ob von der
Vergangenheit in die Gegenwart oder von der Gegenwart zur Vergangenheit!
Letzteres scheint absurd zu sein, ist aber neurologisch betrachtet ein relativ normaler Vorgang. Unser Gehirn erstellt seine Realität zwar zu
fast 100 Prozent aus der Vergangenheit. Das bedeutet aber NICHT, so erstaunlich es auch klingen mag, dass diese Erfahrungen “kausal“ wirken. Vielmehr wirkt ›in uns‹ das kausal, was in der
Gegenwart aus den Erfahrungen abgeleitet wird – und das kann sehr unterschiedlich sein. Insofern fließt auch eine “Kausalität“ von der Gegenwart zurück nach “früher“, denn der Blick auf unsere
Erinnerung ändert sich mit den erfolgreichen Ableitungen, die wir aus unserer Erfahrung ziehen können. Anders formuliert: Unsere momentane Wirklichkeit bewertet die Vergangenheit in Millionen
möglicher gegenwärtiger Ableitungen ständig neu. Ursächlich im engeren Sinn ist an diesen Ableitungen meistens wenig. Dies ist schon allein deswegen so, weil sie, von zwanghaften Handungs- und
Kommunikationsmustern abgesehen, immer anders ausfallen. Unter diesem Blickwinkel würde sich alle Therapie letztlich als Orientierung an einem “Möglichkeitssinn“ (Robert Musil) verstehen, der die
Fixierung auf immer gleiche innere und äußere Muster ablösen soll.
Müsste dann aber nicht jede Therapie vornehmlich an unseren “Projektionen“ auf die Gegenwart ausgerichtet sein? Die Vergangenheit wäre nur
das unvermeidliche Hintergrundrauschen, um einiges besser verstehen zu können. Vielleicht arbeiten viele Therapeuten im Grunde auch so. Dennoch scheint
es mir in vielen Therapie-Ansätzen eine merkwürdige Verflechtung zwischen Vergangenheitsbewältigung und Gegenwartsausrichtung zu geben - so als ob die veränderte Gegenwart sich immer wieder mit
der Vergangenheit rechtfertigen muss. Unsere beschädigte Biografie kann so zum therapeutischen Fluch werden. Was unter Systemikern auch “Problem-Trance“ genannt wird.
Kommen wir aber zurück zu Corona. Die Gegenwart dieser Pandemie setzt vielen von uns ordentlich zu. Alte (!) Ängste werden geweckt, Ur-Traumata
von Krankheit und Tod angesprochen, unsere vielleicht bereits durch die digitale Welt beschädigte Kontakt- und Beziehungsökonomie gerät weiter unter Druck. Wir finden uns in einer Gegenwart, wo
uns noch die sicherste und komfortabelste Vergangenheit plötzlich gleichgültig werden kann. Alles ist auf einmal anders. Die Gegenwart hat ihren Platz zurück erobert, gegen die individuelle
Vergangenheit der Einzelnen. Wir sind wieder ein Kollektiv, grundsätzlich gleichermaßen betroffen, auch wenn das Virus in Ländern mit schwachen Sozialsystemen bei den Armen leichter verbreitet
wird. Unser persönlich “vergangenes“ Glück mag uns nutzen und teilweise schützen, die Angst vor der neuen Gegenwart ist dennoch nicht ganz zu bändigen.
Therapeutisch gesehen könnte Corona insofern eine Chance bedeuten. Gehen wir, ab und zu und ein Stück weit, weg von den Zumutungen unserer
Kindheit oder sonstiger “Biografie-Verfangenheit“. Stattdessen mögen wir uns in eine “therapeutische Demenz“ begeben und die Probleme als das sehen, was sie sind: pure Gegenwart in uns selbst –
und nicht zuletzt auch außerhalb unserer Erfahrung mit uns selbst. Corona hat uns nicht wg. Problemen in der Kindheit zugesetzt. Vielleicht haben diese unsere Wahrnehmung der Pandemie verstärkt
oder sensibilisiert. Aber auch das wäre eine Frage der zeitlichen Perspektive.
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