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Wohlstand, Langweile, Identität

Wo fängt Wohlstand an, wo Armut? Unabhängig von numerischen Definitionen der Sozialforscher ließe sich auf einer systemischen Ebene eine (eher radikale) Definition finden: Wohlstand beginnt dort, wo ein Mensch sich keine akuten Sorgen über seine Nahrungsbeschaffung und sein Dach über dem Kopf machen muss. Ob solche Sorgen latent (also nicht “akut“) mitschwingen, durch die impliziten “Drohzustände“ eines omnipotenten ökonomischen Systems, dem wir alle ausgeliefert sind (und das sich populistisch bis manipulativ auch als “Freiheit“ von uns allen ausgibt), ist dabei eine andere Frage. Solange ich relativ sicher davon ausgehen kann, nicht unter der Brücke zu schlafen oder um Nahrung betteln zu müssen, bin ich, gerade auch im weltweiten Vergleich, zumindest nicht arm. Dass Armut auch eine starke sozialpsychologisch zu bewertende Komponente hat, ist wiederum eine andere Frage. Die Frage dieses Blogs ist, was bewirkt der (relative) Wohlstand in uns allen hinsichtlich unserer Handlungsimpulse. Letztere sind geleitet von intrinsischer Motivation, Aufmerksamkeitssteuerung und Entscheidungsfähigkeit. Und was bewirkt der Wohlstand hinsichtlich der in unserer Gesellschaft nicht zufällig omnipräsenten Frage nach der Identität unseres Selbst. Beide (die Handlungsimpulse der sog. “executive functions“ im Gehirn und die Identität) stehen in Zusammenhang. Kann ein Mensch nicht bestimmen, was oder wen er in sich selbst sieht, wo er sich verortet und welches seine Ziele sind, wird es schwer werden, wirksam in ein Tun zu kommen. Weiß ich nicht wer ich bin, weiß ich kaum wohin (es gehen soll). 

 

Soweit, so klar zu beschreiben. Schwieriger wird es bei der Frage, was in uns allen die oben benannten Handlungsimpulse, also unser aller “Drift“ nach einem Fortkommen und einer Weiterentwicklung, auslösen soll – wenn nicht die deutliche oder latente Wahrnehmung, dass es ohne Entwicklung eher keine gute Möglichkeit der Selbstfürsorge, der ökonomischen Sicherheit etc. geben wird. Womit wir also wieder bei den latenten “Drohzuständen“ wären. Aber lassen sich diese Zustände auch positiv formulieren? Das tun sie! - sei es z.B. durch die in uns allen angelegte Neugierde, unseren Drang zur Erkundung und Exploration dieser Welt. Was aber wenn dieser “Drang“ sich nicht oder nicht mehr einstellt? Was wenn der wie auch immer ausreichende Wohlstand in uns allen eine gewisse Langweile oder schlechtenfalls Depressionen verursacht, die verhindern, mich noch allzu sehr für die Welt zu interessieren. Es ist doch alles da. Im Übrigen liefert das Internet jedwede Information, die ich mir wünschen kann oder die ich vermeintlich dringend brauche. Das scheint ein zynischer Blick auf Wohlstand und seine (zugehörige?) Informationsversorgung zu sein. Nach dem Motto: Ohne existentielle Armut und eine akute Überlebensnotwendigkeit (wie sie für immer noch einen großen Teil der Weltbevölkerung das “täglich Brot“ ist), treibt uns der beschriebene Drang zum (explorativen) Tun womöglich nicht mehr ausreichend an. Wir sitzen sozusagen im (wenn meist auch billig) vergoldeten Käfig unserer eigenen Absicherung – Netflix und Smartphone bieten uns dabei die Möglichkeit, diesen fatalen Zustand nicht allzu unangenehm spüren zu müssen. 

 

Wenn ich aber ohne Zynismus auf die Frage nach der Entwicklung, der Selbstverwirklichung und des positiv in die Gesellschaft gerichteten Handelns blicke, stellt sich mir die Frage, welche sozialpsychologischen Voraussetzungen es bräuchte, um sicherzustellen, dass die “Langweile des vergoldeten Käfigs“ nicht zu sehr um sich greift und letztlich aufgrund ihrer destruktiven Sinn-Leere gar zu Gewalt und Hass führt (es ist dies eine ziemlich unangenehme Blickrichtung auf das “westliche“ Wohlstandsmodell: Langweile, Depression, Selbsthass wären die eingepreisten Folgen dieses Modells, welches eben niemals alle Menschen zu forschenden UnternehmerInnen, zu kreativen Freigeister(n)-Innen (?), zu altruistischen Sozialpolitikern machen wird. Die psychologischen Praxen, die psychiatrischen Abteilungen werden vorerst genug zu tun haben.) Suche ich also, jenseits der sozialpsychologischen und der therapeutischen Analyse, nach systemimmanenten Lösungsversuchen zu diesem Dilemma der “Langweile“, lande ich wieder beim Thema der Identität. Weisst du wer du bist oder sein willst, kommt vermutlich nicht so schnell Langweile auf. Das wiederum hat das ökonomische System längst “erkannt“ (bzw. seine MarketingstrategInnen):

 

  Es braucht Narrative im Hintergrund (so wie sie für jede Religion selbstverständlich sind), um uns zu ökonomisch wirksamen Wesen zu machen. Identitätsnarrative sind dabei ein mächtiges Werrkzeug – denn Menschen wollen unbedingt wissen, wer sie sind, wohin sie gehören und wohin sie in Zukunft gehen sollen. Dies mit dem “Drift“ zur ökonomischen Exploration zu verbinden, ist mutmaßlich ein genialer Trick. I c h muss nicht mehr Brot oder Zeitungen verkaufen. Ich kann mich selbst verkaufen, meine eigene Geschichte. Identität als Ware, die mir gleichermaßen Sicherheit bietet, wie sie Langweile und Sinnleere verhindert. Nur die Frage der ökonomischen Verwertung ist keine leicht zu beantwortende. Zwar gibt es Modelle auf Instagram und Youtube, aber es scheint klar zu sein, dass es als Massenmodell der Selbstvermarktung eher untauglich sein wird. Dennoch könnte der Effekt der Identitätsvermarktung (ich verkaufe das, was ich bin) auf einer mittelbaren Ebene funktional sein: zum Beispiel dann, wenn ich in entsprechenden Lebenswelten meiner Identitäts-bestimmung Jobs finde, die auf eben diese Identitätsnarrative Bezug nehmen, damit in mittelbarem Zusammenhang stehen. Allerdings bleibt das m. E. eine maximal “sekundäre“ Auswertung einer Anlage, die letztlich das System selbst in uns angelegt hat, damit wir uns … eben nicht langweilen und weiter (konsumierend und produzierend) am System teilnehmen, statt in der “sozialen Hängematte“ abzuhängen. 

 

  Identitätssuche macht uns also zunächst mehr zu konsumierenden Wesen als zu produzierenden. Es sei denn, wir produzieren damit eine Menge Auf-merksamkeit, die als Information wiederum verkauft wird. Damit dies aber funktioniert, braucht es in der Regel hohe Etats für Werbung, Strategien der Aufmerksamkeitslenkung und anderes mehr. Aber wer soll das zahlen, wenn i c h einfach nur ich selbst sein will und mich damit verkaufen. Meine Befürchtung hier ist: Identitätssuche, ihr Finden und ihre Expression, verhindert zwar effektiv die zu befürchtende Langweile. Ob sie wirklich ‹Sinn› erzeugt, geschweige denn Einkommen, mag getrost bezweifelt werden. Schließlich haben auch die religiösen Selbstbestimmungsnarrative ihr Einkommen nicht durch die Religion selbst erzielt, sondern durch schnöde Machtausübung, ökonomische Unterwerfung und all diese Dinge, die Reichtum auf dem Wege der Ideologie und des Glaubens herstellen können. Will sagen: I c h kann viel erzählen, über mich und die Welt. Wenn mir niemand die Macht gibt, diese Erzählung zu ökonomisieren, verbleibe ich damit in einem gefährlichen Kreislauf der Illusion. Kreative, KünstlerInnen, Selbstdarsteller – sie alle wissen letztlich um dieses Dilemma. Die verbleibende gute Nachricht ist lediglich: Langweile kommt bei ihnen so schnell nicht auf. 

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