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Suche und Sucht: ein systemischer Versuch


“Was sucht die Sucht?“

 

Das im Fach-Jargon sogenannte ‹craving› (“Verlangen nach“) bezieht sich bereits auf einen inneren Zustand der Anregung,

in Erwartung auf das ersehnte (gesuchte) Suchtmittel, das Entspannung und/oder Veränderung eines als belastend wahrgenommenen Zustandes bringen soll.

Warum wird dieser Zustand oder seine Lösung (beides gehört zusammen, ein “craving“ und ein “relieving“) gesucht?

Weil es sich gut anfühlt. Und weil der Zustand Emotionen, die ansonsten schwer zu bewältigen sind, überlagern kann durch eine empfundene Erleichterung, die aber keine emotionale Erleichterung ist – sondern eine neurochemisch induzierte im Gehirn.

Und ... weil dieser (drogen-induzierte) Zustand ein ‹Entkommen› simuliert, das es ansonsten nicht zu geben scheint. 

 

Auf der sozialen Ebene mögen Zugehörigkeit und eine Neigung zur ›Objektifizierung› von Verlangen (nach dem “Anderen“) dazukommen: Das Suchtmittel ersetzt das nicht zu erreichende menschliche Andere, das Verschmelzen im Miteinander, in der Liebe oder im sozialen Körper, das als solches ebenso schwer erreichbar ist. 

 

All das geht letztlich von einem zugrundeliegenden Mangel an Bedürfnisbefriedigung bei den Betroffenen aus, ebenso (was die Diagnostik angeht) von einem Mangel an Selbstdisziplin, Willensstärke, oder auch der fehlenden inneren Möglichkeit, sich gegenüber dem sozialen Druck der Gruppe wirksam abzugrenzen (gemeinsames Trinken, Rauchen etc..). Oder auch von einer Schwäche durch Veranlagung, durch mangelnde Vorbilder im sozialen Umfeld – wie auch immer. 

 

Suchtverhalten oder Suchtanlage aus einer anderen Perspektive als aus der des Mangels zu sehen, erscheint nahezu ausgeschlossen, zumal die Gefahr der Selbstschädigung und der Schädigung anderer immer im Raum steht. Dennoch seien hier ein paar wenige Anmerkungen versucht, die die Sucht als Suche und Sehnsucht anders konnotieren, um der Perspektive des Mangels auch eine humanistische Perspektive des Verstehens und Anerkennens beizustellen. 

 

Denn auch der ‹Versuch› ist eine Sehnsucht, die zur Sucht gehört, wie das Wasser (wenn ich es trinken will) zum Gefäß oder zur offenen Hand: 

  • Wonach könnten wir also suchen, in der Sucht, wenn es nicht das “billige“, das wohlfeile Entkommen, die “billige“ Erleichterung ist? 
  • Was steht hinter der “billigen“ Suche? 
  • Ist es wirklich nur der Mangel an Stabilität und Stärke? Die Umstände? Die Persönlichkeit? Was könnte es sonst noch sein? 

KünstlerInnen berichten von einem ‹Flow›, der ihnen ein verändertes Selbsterleben ermöglichen kann. Es kann also auch bei der Sucht um ein verändertes oder erweitertes Selbsterleben gehen. Das kann und darf nicht die Droge als solche rechtfertigen. Der Impuls (oder die Suche) ist gleichwohl eine menschliche Grundveranlagung, fast wäre ich geneigt zu sagen: ein Grundrecht. Das veränderte Selbsterleben bedeutet ggf. auch eine Entlastung vom ›Ich‹ – zumal wir in unserer Kultur (der des Westens) nicht mehr sehr gut darin sind, das ‹Ich› mit dem ›Selbst‹ in einen entspannten Ausgleich zu bringen. Will sagen: Wir erleben uns nur noch als ‹Ich› und verlieren dabei mehr und mehr uns selbst.

 

“Selbstempfinden geht tiefer, es bedeutet eine körperliche Sicherheit, in der es möglich ist, Signale von der Außen- und Umwelt mit Innenwahrnehmungen in einen Abgleich zu bringen“

 

Der zwanghafte Ich-Impuls hat das entspannte Selbst-Empfinden zunehmend außer Kraft gesetzt: er überlagert und vermeidet es, dieses mögliche (!) entspannte ‹Selbstempfinden›. Letzteres ist wohlbemerkt nicht mit Selbstbewusstsein zu verwechseln. Selbstempfinden geht tiefer, es bedeutet eine körperliche Sicherheit, in der es möglich ist, Signale von der Außen- und Umwelt mit Innenwahrnehmungen in einen Abgleich zu bringen, ohne dabei aus der sicheren Balance zu geraten. Wir können unser ‹Ich› zurückstellen, weil unser körperliches und selbstwahrnehmendes Gehirn (ja, wir haben auch ein “körperliches“ Gehirn…) nicht auf anstrengende und möglicherweise vergebliche oder überfordernde Ich-Impulse angewiesen ist. Unser (unbewusster) Wunsch, das ‹Ich› loslassen zu dürfen, er ist zutiefst menschlich und erklärt Suchtverhalten nicht aus einem Mangel heraus. Dieser Wunsch hat ein gewisses Anrecht auf Beachtung und Erfüllung – er ist eine psychoedukative und gesellschaftliche Aufgabe für uns alle.

 

“Denn das Bedürfnis nach “Dabeisein“ kann gleichzeitig essentiell, aber überfordernd in der Durchführung sein. Und schon lauert die Sehnsucht, diesen möglichen Konflikt “einfach“ zu erleichtern.“

 

Hinzu kommt: Der Wunsch nach Zugehörigkeit ist als vollzogene Gruppenwahrnehmung ohne Unterstützung “von außen“ oft nicht leicht zu erfüllen. Auch hier handelt es sich um ein essentielles Bedürfnis, welches wiederum keine Drogen grundsätzlich rechtfertigt. Der Wunsch nach Zugehörigkeit, die auch als solche ‹sicher› wahr-genommen wird, ist kein Mangel, sondern ein soziales Grund-bedürfnis; dieses ist manchmal auch nicht dadurch ausreichend erfüllt, dass in der Freizeit Chorsingen oder Fussball angesagt sind: Denn das Bedürfnis nach “Dabeisein“ kann gleichzeitig essentiell, aber überfordernd in der Durchführung sein. Und schon lauert die Sehnsucht, diesen möglichen Konflikt “einfach“ zu erleichtern. Oder das Zusammensein mit anderen verstärkt eine in mir veranlagte Neigung zur Einsamkeit noch, weil die Zugehörigkeit vielleicht nur auf der Oberfläche stattfindet, nicht in der Tiefe erlebbar und verankert ist. Auch hier könnte die Droge meine Wahrnehmung verändern, was ihre Gefährlichkeit einmal mehr unterstreicht. Denn veränderte Wahrnehmung bedeutet keine veränderte eigene Realität. Die Wirklichkeit wird anders erlebt, die Realität bleibt bedrückend, wie sie ist. 

 

Fazit: Eine Suche, die in Suchtverhalten oder Sucht endet, kann paradoxerweise das Ergebnis eines durchaus gesunden Überlebens-instinktes sein. Verändertes Selbsterleben und Empfinden, “Ich-Auflösung“ als Begehren und Gruppenerfahrungen als tiefes und sicheres Erlebnis der Zugehörigkeit sind als Grundverlangen das Ergebnis einer Stärke und Ressorce des eigenen Menschseins. Ihre Erfüllung in Abhängigkeit und Sucht ist nicht immer das Ergebnis einer Schwäche, eines Mangels oder der Veranlagung. Die Erfüllung in der Sucht kann auch ein Versuch, eine Suche sein, den Fallen innerer Zwänge zu entkommen, indem dazu “Medikamente“ eingesetzt werden. Die Droge aber als Medikament – dieses “reframing“ bedeutet Kontrolle, Reflexion und sichere Rahmen-bedingungen. Aber all das ist in vielen Lebenswelten und Sozialräumen kaum je gegeben, in Familien oder Beziehungen oft noch weniger. 

 

Die Abschlussfrage dieses systemischen Versuchs (!) wäre demnach: Wieso gibt es in unserer Gesellschaft so wenig Interesse, Struktur und Ressourcen, um die aufgezeigten Grundbedürfnisse auf eine ‹sich-ere› Weise in einen Rahmen und Kontext setzen zu können? Eine (allerdings etwas pessimistische) Antwort könnte lauten: Weil unser Gesellschaftssystem von Abhängigkeit lebt, und nicht von Erfüllung. 

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