Wir kennen das fast alle: Wir sitzen in einem Kino und sehen eine herzergreifenden Szene. Unsere Augen werden feucht. Einige weinen wirklich. Wirklich? Nun ja. Sie
weinen über die innere Vorstellung einer im Außen inszenierten Abbildung einer traurigen Realität. Sie weinen über ein bereits vergangenes Bild, nicht über den eigentlichen Zustand unserer
Realität in einem bequemen Kinosessel.
Sie ahnen es schon. Ob Kino oder nicht Kino, wir alle drücken unsere Gefühle nur durch die Fähigkeit, innere Bilder von einer Situation zu
entwickeln, aus. Gefühle obliegen unserer inneren Vorstellung, einem inneren Begriff von einer spezifischen Situation und ihrem Verlauf in der Zeit.
Ich kenne beispielsweise die Situation, dass jemand Abschied nimmt. Aus dieser Erfahrung entwickle ich einen inneren Begriff von der Situation
›Abschied‹ und bin, abseits von jeglicher Echtzeit, in der Lage in mir auch in lediglich innerlich erlebten Geschichten und Vorstellungen ein Gefühl von ›Abschied‹ zu erzeugen. So funktioniert
Kino. So funktioniert aber, erstaunlicher Weise, auch ein gutes Stück unserer realen Kommunikation. Egal ob es um Gefühle oder Gedanken, Erinnerungen oder lediglich Informationsaustausch geht.
Wir können nur kommunizieren, weil wir innere Erfahr-ungen von all diesen kommunikablen Sitiationen und Informationen in uns verankert haben.
Werde ich also auf meinen Partner wütend, ist dies nur möglich, weil ich das Gefühl bereits in anderen Kontexten erfahren habe. Insofern gibt es
kein “echtes“ oder “unechtes“ Gefühl, jedenfalls was das unmittelbare Vorhandensein der erlebbaren Emotionen angeht. Ein Gefühl wird nicht dadurch echter oder wahrer, weil mir vor Wut das Herz
fast aus der Brust springt. Eine leichte Wut wäre nicht unwahrer, nur weil ich durch sie nicht rot anlaufe.
Gefühle sind einfach da oder nicht da, und das zunächst unabhängig von jeglicher äußeren Realität. Vielleicht fange ich in der U-Bahn an zu
weinen, weil gestern mein Onkel gestorben ist. Der Kontext der U-Bahn macht das Gefühl nicht stärker oder schwächer, allenfalls versuche ich es vielleicht zu verbergen, weil mir Weinen in der
Öffentlichkeit peinlich ist. Es mag dort unangemessen erscheinen. Aber es wird eigentlich auch nicht angemessener, weil mir gerade mein Partner oder mein Therapeut gegenüber sitzt. Es ist einfach
nur ein anderer Kontext, wo es mir ggf. leichter oder schwerer fällt, mich selbst in genau diesem Gefühl zu erleben und auszuhalten.
Wohl hat der Kontext eine Auswirkung auf die Möglichkeit, meine Gefühl zu kommunizieren, sie jemandem anderen als das was sie sind, mitzuteilen.
Der Kontext bestimmt ganz wesentlich die Möglichkeit der ›sinnvollen‹ Kommunikation von mir und meinen inneren und äußeren Realitäten.
Wir mögen denken, dass Familie oder Partnerschaft der angemessene Kontext für unsere Gefühle sind. Das aber ist leider durchaus nicht immer der
Fall, vor allem wenn es um negative Emotionen geht. Der Andere, der mir nahe steht, ist gerade durch die Nähe oft überfordert, negative Emotion in dem Kontext der Nähe und Intimität zu
kommunizieren. Will sagen: damit in einen Austausch und ein produktives Gespräch zu kommen (natürlich wäre auch Abwendung und Weg-Gehen eine Kommunikation, aber sicherlich nicht die in diesem
Kontext erwünschte).
Den Partner oder das Familienmitglied auch auszuhalten, wenn die Emotion eine negativ erlebte ist, gehört zu den großen Herausforderungen in der
“Kunst der Kommunikation“. Weil es zwei im Grunde sehr ›erwachsene‹ und aufgeklärte Um-gangsweisen der jeweiligen Partner mit den eigenen kommunikativen und emotionalen Bedürfnissen voraussetzt.
Nur, wenn ich in der Lage bin, meine eigenen Gefühle und Gedanken und Bedürfnisse sozusagen vorab mit mir selbst zu moderieren und auszubalancieren, kann ich mit Anderen in eine produktive
Kommunikation darüber kommen. Das Unausgegorene (das es freilich auch geben darf und geben muss) ist im Kontext der Familie oder Partnerschaft nur dann produktiv, wenn es von einer sehr hohen
Vertrauensbasis und Bindungsstabilität untereinander getragen wird, in diesem Moment und auch darüber hinaus.
Kommunikation ist im allgemeinen extrem kontext-abhängig. Und dieser Kontext ist von einer Geschichte der darin gelebten (oder nicht gelebten)
Emotionen geprägt. Vertrauen als Basisnahrung für gelungene Kommunikation setzt also voraus, dass in einem System Gefühle positiv (oder mindestens produktiv) erlebt werden konnten, selbst wenn es
negativ konnotierte Emotionen waren (Wut, Ekel, Verachtung etc.). Oft haben beispielsweise cholerische Menschen das
Problem, dass ihre Wut einst in einer kindlichen Trotzphase von den Eltern nicht positiv moderiert und kommuniziert werden konnte. Dadurch kommt es zu einem unweigerlichen Reinszenierungszwang
solcher Wut in der Kommunikation mit anderen Menschen.
“Das emotional Unausgegorene ist im Kontext der Familie oder Partnerschaft nur dann produktiv, wenn es von einer sehr hohen
Vertrauensbasis und Bindungsstabilität untereinander getragen wird, in diesem Moment und auch darüber hinaus.“
Fassen wir zusammen: Gefühle sind gespeicherte Erinnerungen, die uns helfen, (Echtzeit-)-Situationen emotional zu bewerten und, durch innere
Abgleiche mit emotionalen Erfahrungen, solche realen Situationen “neu“ erleben zu können. Gefühle sind immer “alte“ Gefühle. Ihr Erleben in der jeweiligen
situativen Realität ist ein quasi-“neues“ Erleben, das uns hilft, zunächst in einer internen Kommunikation Rat zu suchen, bevor wir in (möglicherweise) entscheidende Kommunikationen mit der
Außenwelt gehen. Dieses innere Ratsuchen bei eigenen Erfahrungen und Gefühlen sollte mit ausreichend Zeit erfolgen. Dann jedenfalls, wenn die Realität nicht unmittelbares Reagieren oder Handeln
erfordert. In partnerschaftlicher oder familiärer Umgebung ist zumeist ein vorsichtiges Umgehen mit den eigenen Emotionen ratsam, wenn es negative sind. Zu schnell entstehen in diesem Kontext
Missverständnisse und Verletzungen, die womöglich später kaum mehr wirklich auszuräumen sind. Deswegen braucht es für hartnäckige und als beeinträchtigend erlebte emotionale Erinnerungen und
immer wieder im Sinne einer Belastung auftauchende Gefühle den richtigen Kontext für den kommunikativen Ausdruck. Therapie oder Beratung ist in aller Regel ein guter und geschützter Rahmen,
sofern die Vertrauens- und Beziehungsebene zwischen Klient und Therapeut stimmig ist.
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